Die Entstehung von
Krankheiten führten die mittelalterlichen Ärzte auf eine Störung des
Gleichgewichtes der vier Kardinalssäfte, nämlich des Blutes, des
Schleimes, der gelben und der schwarzen Galle, zurück. Wenn z.B. zuviel
schwarze Galle vorhanden war, mußte der Arzt entweder mittels Heilkräutern
oder durch den Aderlaß versuchen, das Gleichgewicht wiederherzustellen.
Dabei war das Aderlassen schon ein sehr alter Brauch. Die griechischen
Ärzte hatten ihn im gesamte n Mittelmeergebiet verbreitet. Hildegard von
Bingen sah die Anwendung und den Nutzen des Aderlasses folgendermaßen:
"Sind bei einem Menschen die Gefäße mit Blut gefüllt, so müssen sie von
dem schädlichen Schleim und dem durch die Verdauung gelieferten Saft durch
einen Einschnitt gereinigt werden. Wird bei einem Menschen ein Gefäß
angeschnitten, so erleidet das Blut, wie durch einen plötzlichen
Schrecken, eine Erschütterung, und was dann zutage kommt, ist Blut, und
fauliges und zersetztes Blut fließen gleichzeitig mit ab. Daher
kommt es, daß das, was jetzt ausfließt, verschieden gefärbt ist, weil es
aus Fäulnis und Blut besteht. Sobald die Fäulnis mit dem Blut ausgeflossen
ist, kommt reines Blut heraus, und dann muß man mit der Blutentziehung
aufhören. Macht man einem sonst gesunden und kräftigen Menschen
einen Aderlaß, so soll die Menge des gelassenen Blutes soviel betragen,
wie ein kräftiger, durstiger Mann auf einen Zug Wasser trinken kann. Wenn
einer körperlich schwach ist, soll der Aderlaß soviel betragen, wie in ein
Ei von gewöhnlicher Größe hineingeht. Denn ein Aderlaß, der über das Maß
hinaus vorgenommen wird, schwächt den Körper gerade so wie ein Regenguß,
der ohne Maße auf die Erde fällt, diese schädigt. Eine richtig
bemessene Blutentziehung aber beseitigt die schlechten Säfte und sorgt für
den Körper wie ein Regen, der langsam und in nicht zu großer Menge auf die
Erde fällt, diese bewässert und befähigt, Frucht hervorzubringen."
(in: Die Äbtissin Hildegard von Bingen, ebenda, S. 115)
Der Zeitpunkt des Aderlasses hing von der Mondphase und dem Planetenstand
ab. So glaubte man nämlich, daß der Aderlaß nur in den ersten sechs Tagen
bei abnehmendem Mond helfe. Bei wachsendem Mond seien das Blut und die
fauligen Flüssigkeiten so gut gemischt, daß man das Schlechte nur
ungenügend vom Guten trennen könne.
Kinder unter sechs Jahren und alte Leute über 70 Jahren setzte man in der
Regel statt des Aderlasses Blutegel an den Hals, auf die Schultern, auf
die Kniebeugen und auf das Hinterteil. Hildegard von Bingen riet, wenn es
notwendig sei, einen Jungen erst ab dem 12. Lebensjahr zur Ader zu lassen.
Die bei ihm zu entnehmende Blutmenge sollte jedoch nicht mehr als zwei
volle Nußschalen füllen. Und diese Prozedur dürfte auch nur einmal im Jahr
vorgenommen werden.
Vom 15. bis 50. Lebensjahre konnte der Mann drei- bis viermal im Jahr zum
Blutabnehmen erscheinen. Ab dem 50. Lebensjahr sollte er jedoch nur noch
einmal pro Jahr zur Ader gelassen werden. Außerdem durfte die abzunehmende
Blutmenge nur noch die Hälfte der bisherigen Menge betragen. Ab dem 80.
Lebensjahr sollte beim Mann schließlich kein Blut mehr entnommen werden,
da diese Behandlung dann eher schädlich als nützlich sei.
Bei der Frau, der man weit mehr schädliche Säfte und Fäulnisstoffe in
ihrem Blut nachsagte, sollte dagegen bis zum 100. Lebensjahr das
verdorbene Blutwasser entzogen werden.
Hildegard von Bingen vertrat zudem die Auffassung, daß man bis zum 30.
Lebensjahre sehr vorsichtig mit dem Aderlaß umgehen müßte. Besonders
Kinder und Jugendliche im Wachstum sollten davon verschont werden. Auch
dürfte man nie zuviel Blut abzapfen, weil sonst die Schleime im Körper
überhandnehmen, und das verarmte Blut sich nicht gegen Seuchen und andere
Krankheiten wehren könnte.
Aderlässe wurden im Kloster vom Tonsor, der auch die Tonsur und die Bärte
der Mönche rasierte, und in der Stadt vom Bader vorgenommen. Sie schnitten
mit einem messerähnlichen Gegenstand, der Fliete, bestimmte Adern an. So
unterschieden sie z.B. drei Hauptadern, nämlich die Kopfader, die
Mittelader und die Leberader. Für am
wirkungsvollsten wurde von ihnen der Schnitt in die Kopfader gehalten, da
diese mit vielen säfteführenden Gefäßen eng in Verbindung stehe. Bei
traurigem Herzen, Schwermut, Schmerzen an der Seite, Lungen- und
Herzschmerzen wurde die Mittelader angeschnitten. Bei Leber- und
Milzschmerzen, bei dem Gefühl von Atembehinderung, bei Schwindelanfällen
sollte dagegen die Leberader geöffnet werden. Bei speziellen Schmerzen
z.B. an der Zunge oder am Fuß wurden an diesen betreffenden Orten kleine
Schnitte angelegt.
Mit der Fliete konnte man durch Druck und Schlag die drei genannten
Hauptadern in der Armbeuge anschneiden, und zwar wurden diese Blutgefäße
schräg oder in Längsrichtung geöffnet. Dünnere Adern, vor allem an den
Füßen, schnitt man quer an.
Zur Ader wurde jedoch nicht nur im Krankheitsfalle gelassen, sondern auch
wenn Frauen an zu großen Brüsten litten. Denn bis Mitte des 15.
Jahrhunderts waren
kleine Brüste gefragt und stand der große Busen - nicht nur modemäßig - in
einem schlechten Ruf. So behaupteten die jungen Männer, diese Brüste wären
so groß, weil sie von ihnen oder gar von anderen in die Länge gezogen
worden wären. Deshalb mußten diese Frauen oft auch noch ihre
Jungfräulichkeit verteidigen!
zurück
|